Blinder Bergsteiger Andy Holzer tastet sich an die Seven Summits heran
Mehr als 200 Tage im Jahr verbringt der österreichische Kletterer an Felswänden auf der ganzen Welt. Sechs der berühmt-berüchtigten Seven Summits – die sieben höchsten Berge der sieben Kontinente – hat Andy schon bestiegen: Mount Vinson (Antarktis), Carstensz-Pyramide (Australien), Denali (Nordamerika), Aconcagua (Südamerika), Kibo (Afrika), Mont Blanc (Europa). Nur der Mount Everest fehlt ihm noch. Zweimal hat er es versucht, zweimal hat ihm die Natur einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ob er sich ein drittes Mal an den asiatischen Gipfel herantastet, steht in den Sternen. Wenn doch, wäre Andy Holzer der erste blinde Europäer, der die Seven Summits bezwungen hätte. Ja, richtig: Andy ist blind. Und Bergsteiger.
„Ich sehe mit meinen zehn Fingern“
Andy Holzer ist ein Sportjunky. Er liebt den Langlauf, das Surfen, Fahrradfahren und natürlich seine Meisterdisziplin: das Bergsteigen. Dass er rein gar nichts sieht, stört ihn dabei nicht. Seiner Meinung nach wird das Sehen völlig überschätzt: „Aufgrund meiner eingeschränkten Wahrnehmung sind bei mir einige Ressourcen im Gehirn frei. Ich werde nicht mit Seheindrücken überschüttet und kann die übrigen Eindrücke ganz anders analysieren und reflektieren.“ Für Blinde ist ein senkrechter Pfad im Gegensatz zu einem waagerechten Weg eigentlich fast schon ein Kinderspiel. „Ich sehe mit meinen zehn Fingern. Sobald meine Hände Kontakt mit dem Fels kriegen, habe ich ein Bild der Umgebung“, sagt der Österreicher.
Retinitis Pigmentosa heißt Andys Diagnose: Eine Netzhautdegeneration, die dem sympathischen Mann nie das Licht der Welt erblicken lassen hat – er ist von Geburt an blind. Schon 49 Jahre verbringt der optimistische Extremsportler in optischer Dunkelheit und ist davon überzeugt, „dass es keinen einzigen Nachteil auf der Welt gibt, der nicht auch von Vorteil sein kann.“ Und so ist Andy eben nicht der typische Blinde: Er hat keinen Blindenstock. Er kann die Blindenschrift nicht lesen. Er hat keinen Blindenhund. Er trägt nicht die gelbe Armbinde mit den drei Punkten. Ja, er hat sogar in seiner Jugend seine Blindheit verborgen und auch seinen Eltern verboten, das anderen mitzuteilen. „Ich wollte mir die schönen Dinge nicht verbauen. Ich wusste, dass ich blind bin, aber große Ressourcen habe. Nur, wenn ich das zugebe, dann reagiert die Welt anders. Ich hatte nie eine Brille. Blind ist blind. Ich hab‘ immer nur schlecht gesehen und sagte: ,So schlecht sehe ich auch wieder nicht, dass ich eine Brille brauche.‘“ Und wenn Andy am Felsen klettert, hat das nie mit Nervenkitzel oder einem Adrenalin-Kick zu tun, sondern das ist für ihn die pure Freiheit:
''Kontrolle bedeutet für mich Freiheit. In den Bergen kann ich mich so bewegen, wie ich es spüre. Wenn ich keine Kontrolle mehr habe, muss ich mich so bewegen, wie es mir die anderen sagen.'' – Andy Holzer
Den Berg tasten, hören, riechen und schmecken
Viele halten den blinden Bergsteiger für verrückt, ja sogar für verantwortungslos, da er sich selbst immer wieder in Gefahr bringt – denn nur wenige Zentimeter trennen ihn jedes Mal vom Absturz und er kann diese Gefahr einfach nicht sehen! Aber Andy Holzer vollführt mit jedem Aufstieg sportliche und auch sinnliche Höchstleistung: Wenn ein Sinnesorgan eben nicht will, müssen die anderen halt ran. Mit das wichtigste Handwerkszeug des Gipfelstürmers ist sein präzises Gehör. Dank der Schritte seiner Partnerkletterer und durch Schnalzlaute orientiert sich Andy mithilfe des Echos. Manchmal ist auch eine Handvoll Sand hilfreich, die der Österreicher an einer Steilwand in seine Dunkelheit wirft:
''Jedes einzelne Körnchen prallt irgendwo auf, der Schall wird reflektiert, und ich kann Entfernung und Höhenabstand berechnen. Dadurch habe ich ein Bild der Umgebung, das so viele Pixel hat, wie ich Sandkörner geworfen habe.'' – Andy Holzer
Die kleinsten Kleinigkeiten, die ein sehender Bergsteiger vielleicht „übersehen“ würde, sind für Andy das Salz in der Suppe. Vom Luftzug, der ihm verrät, ob er an einer freien Kante steht oder an einer steilen Wand, über pfeifenden Wind, der einen Felsvorsprung verrät, bis hin zu Geräuschen eines Gewitters, während der Himmel für den Sehenden doch noch strahlend blau ist. Bestenfalls besteigt der leidenschaftliche Kletterer, der mit neun Jahren seinen ersten Felskontakt hatte, die Berge immer mehrmals von verschiedenen Seiten, so kann er sich die Silhouetten und Gegebenheiten ganz genau vorstellen. Auch der Geruchssinn liefert ihm so manch interessantes Detail. „Ob das Granit ist oder Schiefer oder Gneis, das riecht alles anders. Es gibt so viele Gerüche, wie es Länder gibt, aber die Menschen nehmen es nicht wahr, weil sie vom Augenlicht überwältigt sind“, erklärt Andy, der oftmals schon an einem Flughafen „erschnüffeln“ kann, in welchem Land er ist. Doch auch der präziseste Orientierungssinn ist nicht vor allen Gefahren gefeit: Lärm ist der Feind eines jeden Blinden. In Sekundenschnelle verwandelt sich dann Andys einfaches, vertrautes Terrain des Felsens in eine starkbefahrene, riesige Straßenkreuzung einer Großstadt. Das ist dann so als ob Andy vor einem Regal voller Konserven steht: er ist blind. „Ich bin in meinem Leben noch nie einkaufen gegangen“, verrät der 49-Jährige leicht bedrückt, „da steige ich lieber auf einen schönen Berg.“ Schon sieht man wieder das Feuer in den blauen Augen des Abenteurers, auch wenn die Pupillen keine Reaktion zeigen.
Das erste Date als Blindenhund
Hinter jedem starken Mann steht auch eine mindestens genauso starke Frau. Im Leben des gelernten Heilmasseurs und Heilbademeisters ist das Sabine. Sie ist sein Basislager, nur zu ihr hält er Kontakt, wenn er zwischen Felsen und Abgründen balanciert, weil sie die Nerven behalten kann. Seit 1990 sind die beiden verheiratet und als er sie mit 23 Jahren kennenlernte, kam wieder der freche Lausbub aus Kindertagen zum Vorschein, der sein Handicap verheimlicht: „Ich wusste, wenn ich ihr sage, dass ich blind bin, schaltet sie auf einen anderen Kanal und dann läuft nix.“ Über Freunde haben sie sich kennengelernt und damit das Versteckspiel nicht aufflog, musste Andy beim ersten richtigen Date mehr als clever sein: Als Treffpunkt diente eine schmale Holzbrücke, auf der nur einer gehen kann. So war es Andy haargenau möglich, ihr Gesicht richtig anzuvisieren.
''Ich habe einen eisigen Spazierweg ausgesucht und sie gefragt, ob sie sich nicht bei mir einhängen will. Sie hat gar nicht gemerkt, dass sie mein Blindenhund war.'' – Andy Holzer
Als er nach einigen Treffen damals mit der Wahrheit rausrückte, war sein Spielchen schon längst aufgegangen – sie hatte sich verliebt. Diese Liebe hält bis heute. Sabine ist seine Ehefrau, beste Freundin, Partnerin und Ruhepol, die auch Verständnis hat, wenn ihr Ehemann zum 25. Hochzeitstag auch einfach mal im Himalaya rumklettert und nicht Zuhause mit einem Candle-Light-Dinner auf sie wartet. Gleichzeitig ist er aber auch ihr Mann, der trotz Handicap ein Haus für sie baut. Aber wie geht das als Blinder? „Ich bin zu den Leuten hingegangen und habe gefragt, ob ich aufs Dach steigen darf, um zu erspüren, wie die Häuser ausschauen“, verrät Andy und lacht. Wenn der 49-Jährige nicht gerade in schwindelerregender Höhe unterwegs ist, hat er auch ganz bodenständige Hobbys. Viele Jahre war Andy Bassist, Gitarrist und Sänger in der Tanzkapelle „Dolomitenduo“. Auch das Funken zählt zu seinen Leidenschaften abseits des Extremsports, seit 1987 ist er Funkamateur mit Kurzwellenlizenz.
Aller guten Dinge sind drei?
„Schon als Jugendlicher war der Everest ein großer Traum von mir“, sagt Andy Holzer 2014 in einem Interview kurz bevor er sich das erste Mal zum höchsten Berg der Welt aufmacht. Zusammen mit den Kletterern Daniel Klopp und Wolfgang Klocker will er den sagenumwobenen Gipfel im Himalaya stürmen. Schafft der ehrgeizige Österreicher die 8848 Meter Anstieg in die Höhe wäre er nach Erik Weihenmayer der zweite Blinde auf der Spitze des Everests – doch es sollte nicht sein: Nach einem Lawinenunglück muss das Bergsteigerteam die Tour abbrechen. Zwölf Kletterer finden am Karfreitag 2014 den Tod auf dem heiligen Berg. Andy und sein Team überleben das Unglück. Ein Jahr später dann der zweite Versuch, aber wieder bäumt sich die Natur auf: Zur Mittagszeit des 25. Aprils 2015 erschüttert ein fürchterliches Beben die Erde und löscht mehr als 8.400 Menschenleben in Nepal, Indien und China aus.
''Ich fühlte mich wie im Seemannsgang auf einem schwankenden Schiff.'' – Andy Holzer
Nur knapp können sich Andy & Co. vom Berg retten. Ob der blinde Kletterer den Everest auch noch ein drittes Mal herausfordern wird und damit den siebten und letzten Berg der Seven Summits abhakt, lässt er offen. „Das Geile ist, dass diese Seven Summits gar nicht mein Ziel sind. Das sind zwar extrem emotionale Berge, aber in Wahrheit ein Marketing-Gag“, sagt Andy und fügt hinzu: „Außerdem muss ich die Sehnsucht wieder spüren.“ Doch egal, wie sich der sympathische Strahlemann entscheidet, man darf immer gespannt sein, was er als Nächstes vorhat. Und wenn es „nur“ eine Fahrt mit einem Eisbrecher zur Antarktis wie in diesem Jahr ist, um dort einige Skitouren zu machen. Doch diese Abwechslung und die Leichtigkeit, spontan zu entscheiden, worauf er Lust hat, machen diese Geschichten für den Abenteurer so reizvoll: „Für mich ist das eine dieser Lausbubenstreiche, von denen ich dann mit 90 sagen werde: Hey, das war ja wesentlich geiler als der Everest.“
''Der siebte Gipfel ist für mich sekundär. Wenn es passiert, passiert’s. Ansonsten bin ich eben der Andy Holzer mit den sechs Summits.'' – Andy Holzer
Bildquellen: www.andyholzer.com, Fotografen: Andreas Unterkreuter, Florian Brunner, Daniel Kopp, Andreas Nothdurfter, Robert Joelli, Andi Scharnagl