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Triumph auf Krücken

+++ Wie die Amputierten-Fußballer der Türkei zu Volkshelden wurden +++

Als Kapitän Osman Cakmak die Türkei in der Nachspielzeit zum 2:1-Siegtreffer gegen England schoss, brachen alle Dämme. Spieler und Betreuer lagen sich in den Armen, 40 000 (!) Zuschauer im Vodafone Park Istanbul flippten aus. Die Türkei gewann die Fußball-EM 2017!

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Was nach einem Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ klingt, ist wirklich passiert. Die emotionalen Szenen spielten sich am 10. Oktober bei der Europameisterschaft im Amputierten-Fußball ab. Im Endspiel des Zwölfer-Turniers, das wegen des großen Andrangs kurzfristig ins Heim-Stadion von Besiktas Istanbul verlegt wurde, sicherten sich die Gastgeber ihren zweiten EM-Titel. „Das sind die wahren Männer“, titelten türkische Zeitungen nach dem Triumph.

Der Erfolg der amputierten Kicker war Balsam auf der Seele der türkischen Fußball-Fans. Zuvor hatte die A-Nationalmannschaft der Türkei die Quali für die Weltmeisterschaft 2018 in Russland verpasst. Der WM-Dritte von 2002 unterlag den EM-Helden aus Island im entscheidenden Spiel sang- und klanglos mit 0:3 und schied als Gruppenvierter aus. Ironie der Ereignisse: Nur wenige Tage nach der Schmach polierte eine Truppe mit Handicap das ramponierte Image des türkischen Fußballs auf.

Nur 30 amputierte Spieler in Deutschland

Dabei haben die Spieler der türkischen Amputierten-Auswahl weiß Gott schon viel hinter sich. Kapitän Cakmak trat während seines Wehrdienstes auf eine Mine und verlor dabei sein linkes Bein. Andere erlitten schwere Unfälle. Mehmet Yunsur verlor sein Bein, als es bei der Feldarbeit in einen Strohhäcksler gezogen wurde. Fatih Karakus erlitt als Kind einen Stromschlag und verlor seinen Arm. Anderen fehlen von Geburt an Gliedmaßen. Sie alle schöpften durch den Fußball neue Kraft. Und fanden bei der EM ein Stück weit gesellschaftliche Anerkennung.

Kein Wunder: In der Türkei besitzt Amputierten-Fußball einen größeren Stellenwert. Es bestehen zwei halbprofessionelle Ligen, deren Spiele im Fernsehen übertragen werden. In Deutschland ist die Sportart noch nahezu unbekannt. Laut dfb.de sind seit 2009 bundesweit an den drei Standorten in Braunschweig, Hoffenheim und Ludwigsburg gerade einmal 30 Spieler aktiv. Da in Deutschland geschätzt 60 000 Menschen amputiert sind, wäre noch Potenzial vorhanden.

Die Nationalmannschaft wird von Hoffenheims Mäzen Dietmar Hopp finanziell unterstützt. „Ohne sein persönliches Engagement und die seiner Stiftung ,Anpfiff ins Leben’ wäre eine Teilnahme an der EM illusorisch“, sagte Bundestrainer Claus Bender, der rund 20 000 Euro für das Turnier in der Türkei aufbringen musste.

Platz 8: Auswahl sichert WM-Ticket

Auch sportlich war die deutsche Auswahl am Bosporus krasser Außenseiter. Das Auftaktmatch gegen Gastgeber Türkei ging mit 0:7 verloren. „Das ist wie, wenn Andorra gegen Deutschland spielt“, verdeutlichte Trainer Bender den Klassenunterschied. Trotzdem konnte sich sein Team im Turnierverlauf steigern. Nach einem knappen 1:2 gegen Spanien erreichte Deutschland im letzten Gruppenspiel ein 1:1 gegen Georgien. In der Platzierungsrunde gelang gegen Griechenland der erste Sieg (2:1). Nach einem 1:1 gegen Belgien bezwang das Team im Spiel um Platz acht Georgien mit 5:2. Damit sicherte sich die Auswahl das Ticket für die WM 2018.

Dort gibt es das Wiedersehen mit dem Europameister. In der Türkei fordern Fans bereits, die Prämien, die für die Erfolge der A-Nationalmannschaft bei der WM 2018 in Russland vorgesehen waren, der Amputierten-Auswahl bereitzustellen. „Von nun an habt ein Auge auf Menschen mit Handicap. Ich rufe alle Menschen mit Behinderung auf: Kommt raus und fangt an zu spielen“, rief Matchwinner Osman Cakmak nach dem EM-Triumph und ließ sich von der Menge feiern.

So funktioniert Amputierten-Fußball
Amputierten-Fußball ist eine besondere Variante des Behinderten-Fußballs. Feldspieler jagen mit Metallkrücken mit einem Bein dem runden Leder nach. Der Torwart spielt mit beiden Beinen, aber nur mit einem Arm. Es wird nach den üblichen Fußball-Regeln gespielt. Es gibt nur kleinere Anpassungen: Gespielt wird ohne Abseits mit sechs Feldspielern und einem Torwart, der seinen Strafraum nicht verlassen darf. Das Spielfeld ist maximal 51 mal 31 Meter groß, zudem ist das Tor mit zwei mal drei Metern etwas kleiner. Die Spielzeit beträgt zweimal 25 Minuten. Der Ball darf nur mit dem Bein fortbewegt werden. Stoppen oder Weitergabe des Balles mit den Krücken wird als Handspiel gewertet. Ansonsten steht der Amputierten-Fußball in puncto Rasanz, Dynamik und Spannung dem üblichen Fußballsport in nichts nach. Mittelfristiges Ziel ist es, dass Amputierten-Fußball in das Programm der Paralympics aufgenommen wird. Quelle: dfb.de