Wie der Abstiegs-Kandidat aus den englischen Midlands die Premier League gewann.
Fußball-Wunder gibt es heute nur noch selten. Zu groß ist die Dominanz der Spitzen-Klubs. Ob Real, Barca, Bayern oder Juventus – die Top-Teams Europas machen die Titel national und international immer öfter unter sich aus. Leicester City durchbrach den Bann und wurde 2016 sensationell englischer Meister.
5000:1 – so lautete die Gewinnquote für den Premier-League-Sieg von Leicester City. Wer vor der Saison 2015/16 ein englisches Pfund (rund 1,19 Euro) auf den Abstiegskandidaten aus den Midlands setzte, erhielt am Ende 5000 Pfund (6000 Euro) heraus. „So eine Gewinnquote gab es in der Geschichte noch nie“, sagte ein Sprecher des Wettanbieters William Hill.
Kein Wunder, galt doch das Team aus dem beschaulichen Leicester, 150 Kilometer nördlich von London gelegen, lange als Fahrstuhlmannschaft. Die Truppe des thailändischen Milliardärs Vichai Srivaddhanaprabha, der den Klub 2010 kaufte, kehrte 2014 nach zehn Jahren in die Premier League zurück. In der ersten Saison gelang dem Underdog, der für englische Verhältnisse über ein vergleichsweise kleines Budget von 75 Millionen Euro verfügte, mit Ach und Krach der Klassenerhalt.
Coach Ranieri „bastelt“ sich Top-Team
Wenn Leicester für Schlagzeilen sorgte, dann für negative. Ex-Trainer Nigel Pearson wurde wegen eines Rassismus-Skandals entlassen. Zudem lösten drei Spieler mit einem Sex-Tape einen Skandal aus. Letzten Sommer verpflichteten die „Foxes“ den Italiener Claudio Ranieri als Coach. Der 64-Jährige war zuvor als griechischer National-Trainer (nach einer 0:1-Pleite gegen die Färöer-Inseln) gefeuert worden. Wie sollte der Fußball-Oldie, der in seiner Laufbahn noch nie eine Meisterschaft gewonnen hatte, den Außenseiter aus dem Tabellenkeller holen, geschweige denn an die Spitze der Premier League führen?
„Durch seine Art. Er ist kein Trainer, der aufdringlich ist und unbedingt seinen Willen durchsetzen muss, sondern er sorgt für ein gutes Miteinander. Er ist sehr auf das Wohlbefinden seiner Spieler bedacht, ein lockerer Typ“, sagte Leicester-Profi Christian Fuchs im taz-Interview. Der Österreicher, der früher auch in der Bundesliga kickte (Bochum, Mainz, Schalke), machte den gewachsenen Teamgeist für den Erfolg verantwortlich. „Wir beweisen, dass man auch abseits des großen Geldes Erfolg haben kann, weil wir uns füreinander den Arsch aufreißen“, so der Außenverteidiger.
Tatsächlich schaffte es der „Bastler“, wie Ranieri genannt wird, aus einer mittelmäßigen Truppe einen Favoritenschreck zu formen. „Ich habe den Jungs gesagt, dass ich ihnen vertraue und wenig von Taktik sprechen werde. Ich habe nur etwas modifiziert, Spieler auch auf andere Positionen gestellt und die Spielweise geändert“, verriet der Trainer-Fuchs im Interview mit dem Kicker.
Mit Wirkung. Schon in der Hinrunde sammelte der Außenseiter fleißig Punkte. Leicester bezwang sogar den FC Chelsea (2:1) und rang den großen Klubs aus Manchester (1:1 United, 0:0 City) ein Remis ab. Der Lohn: Zur Halbserie stand die No-Name-Truppe punktgleich mit Arsenal an der Spitze. „Es sieht so aus, als können sie alles. Sie fliegen derzeit durch die Liga, und es ist verdient. Sie machen einen brillanten Job“, lobte Liverpool-Trainer Jürgen Klopp.
Sie fliegen durch die Liga. Sie machen eine billanten Job.Liverpool-Coach Jürgen Klopp
Vardy: Von No Name zum zum Top-Torjäger
Neben der stabilen Defensive um den deutschen Ex-Nationalspieler Robert Huth und Abräumer N’Golo Kanté war es Leicesters Offensive, die glänzte. Allen voran Jamie Vardy. Der Stürmer kickte bis 2010 in der siebten Liga. Damals verbüßte er nach einer Kneipenschlägerei eine Strafe wegen Körperverletzung, musste sogar mit einer Fußfessel kicken und bis 18 Uhr zu Hause sein. Sonst hätte er gegen Bewährungsauflagen verstoßen. „Ich habe gehofft, dass wir gewinnen, und bin dann über den Zaun gesprungen. Dort haben mich meine Eltern abgeholt, damit ich rechtzeitig zu Hause war“, schilderte der 29-Jährige, der erst 2012 den Sprung in die 2. Liga schaffte.
Vier Jahre später mischte Vardy die Premier League auf. Dank blitzschneller Konter und Schützenhilfe von Sturmpartner Riyad Mahrez traf der „Knipser“ zwischen dem 4. und 14. Spieltag in jeder Partie mindestens einmal. Damit knackte Vardy den Tor-Rekord von Ruud van Nistelrooy. „Ich muss mich noch kneifen“, twitterte der Torjäger. Später wurde er ins Nationalteam berufen, fuhr 2016 zur EM und wurde zu Englands Fußballer des Jahres gewählt – ein Fußball-Märchen.
Experten, die Leicester in der Rückrunde einen Einbruch vorhersagten, lagen abermals falsch. Der Außenseiter übernahm Ende Januar die Tabellenführung. Nach dem 3:1-Sieg bei Verfolger Manchester City war klar: Der Underdog wird nur noch schwer zu stoppen sein. „Nicht mal sie selbst haben das erwartet. Aber sie hätten es verdient“, meinte Manchester-United-Trainer Louis van Gaal. Englands Sturmlegende Gary Lineker, der seine Karriere in Leicester gestartet hatte, twitterte: „Träumte, dass Leicester an der Spitze der Premier League steht. Und es fühlte sich so echt an.“
Rückkehr zum Abstiegskampf
Aus dem Traum wurde Realität: Leicester sicherte sich am 36. Spieltag vorzeitig den ersten Meistertitel der Klubgeschichte. Fifa-Präsident Gianni Infantino schwärmte: „Märchen wie das von Leicester zeigen uns, dass der Fußball nicht vorhersagbar ist. Das ist der Grund, weshalb wir den Fußball lieben, das ist die Magie.“ Und er gibt all jenen Klubs in der zweiten Reihe Hoffnung. Hoffnung, dass sich harte Arbeit irgendwann auszahlt. Hoffnung, dass im Fußball nicht immer das Geld regiert. Hoffnung, dass den superreichen Spitzen-Klubs im Kampf um die Meisterschaft hier und da beizukommen ist.
Ironie der Geschichte: In der aktuellen Saison spielt der Überraschungs-Meister wieder gegen den Abstieg. Offenbar macht Leicester die mehrfache Belastung in Liga, Pokal und Champions League zu schaffen. „Ein Klub wie Leicester, der zum ersten Mal europäisch spielt, büßt in der Liga Qualität ein“, stellte Coach Ranieri nüchtern fest. Jetzt ist der Italiener wieder als Krisenmanager gefragt.